Europaweit ist es die größte Studie zu den Auswirkungen des Flug-, Straßen- und Schienenverkehrslärms: NORAH (Noise-Related Annoyance, Cognition and Health) ist jüngst durch das Umwelt- und Nachbarschaftshaus, einer Tochter des Landes Hessen und Teil des Forums Flughafen und Region veröffentlicht worden. Wissenschaftler aus verschiedensten Disziplinen führten seit 2011 im Rahmen der Studie Untersuchungen in der Umgebung des Frankfurter Flughafens durch. Darunter Dr. Uwe Müller vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Er leitete die Teilstudie zu Auswirkungen des Fluglärms auf den Schlaf. Am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin ist er in der Abteilung Flugphysiologie als Projektleiter im Bereich Lärmwirkungsforschung tätig. Im Interview erzählt er, wie der Forschungsbereich am DLR entstand, wie eine neue Methode seine Arbeit vereinfacht und welche Forschungsfragen und -projekte ihn und die Lärmwirkungsforscher der Abteilung in den nächsten Jahren beschäftigen werden.
Interview von Falk Dambowsky
Herr Dr. Müller, Sie sind studierter Physiker und arbeiten im DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin. Wie kommt man als Physiker eigentlich zur Schlafforschung?
Der Weg war nicht ganz geradlinig. Während meiner Doktorarbeit habe ich mich bis zum Jahr 2000 noch mit Atmosphärenspektroskopie beschäftigt. Danach war ich offen für etwas Neues und schaute mich nach interessanten Themen und Arbeitsbereichen um. Eine Stellenausschreibung beim DLR klang sehr spannend. Damals wurde ein Physiker gesucht, der den Bereich Akustik bei der neu geschaffenen Lärmwirkungsforschung abdeckt. Ich bekam die Stelle und arbeite seitdem in der Abteilung Flugphysiologie in einem sehr interdisziplinären Team, in dem Ärzte, Psychologen, ein Statistiker, ein Elektroniker, eine Medizinisch Technische Assistentin, ein Biologe und eben auch Physiker vertreten sind. Das hilft ungemein bei unserer sehr komplexen Forschungsarbeit.
Wann begann das DLR mit der Lärmwirkungsforschung?
Schon etwas zuvor. Im Jahr 1998 hatte sich die Abteilung Flugphysiologie entschlossen, die Lärmwirkungsforschung im DLR aufzubauen. Die erste große Feldstudie zur Auswirkung des Fluglärms auf den Schlaf von Anwohnern führten wir dann 2001/2002 am Köln/Bonner Flughafen durch. Da war ich bereits dabei. 64 Probanden wurden jeweils für neun Nächte mittels der sogenannten Polysomnografie auf ihre Aufwachreaktionen und ihre Schlafqualität insgesamt untersucht.
Polysomnografie, was kann man sich darunter vorstellen?
Bei dieser Methode wird jeder Proband mit zahlreichen Messelektroden jeden Abend von uns Untersuchern vor dem Schlaf verkabelt. In der Nacht werden unter anderem Hirnstromwellen, Augenbewegungen, Herzschlag und Atemrhythmus aufgezeichnet. Am Morgen sind wir dann zurück und nehmen den Probanden die Messausrüstung wieder ab. Das ist natürlich immer ein sehr großer Aufwand. Insgesamt brauchten wir 15 Monate bei zwei parallelen Messstellen für die Köln/Bonner Studie. Der Aufwand hat sich aber gelohnt. Die damals ermittelten sogenannten Dosis-Wirkungskurven, die den Fluglärm in Relation zu den Aufwachreaktionen setzen, nutzen wir bis heute für unsere wissenschaftliche Arbeit. Weltweit arbeiten auch nur ganz wenige Gruppen in der Lärmwirkungsforschung mit diesem hohen Standard zur Messung der Schlafqualität.
Wie ging es dann weiter?
Ab 2004 haben wir im Anschluss zunächst im Schlaflabor untersucht, welche Auswirkungen denn der Bahn- und Straßenlärm auf den Schlaf hat. Zur gleichen Zeit habe ich ein EU-Projekt bekommen im Bereich Sound Engineering. Da ging es darum zu untersuchen, welche Geräuschanteile beim Flugzeug denn besonders störend sind und gezielt eliminiert werden sollten.
Welche Ergebnisse konnten Sie dabei mit Ihren Forschungskollegen erzielen?
Es war sehr spannend. Wir haben damals herausgefunden, dass bei gleichem Schallpegel der Güterzuglärm zu einer deutlich höheren Aufwachwahrscheinlichkeit führt als der Fluglärm. Nach ersten Laborstudien bestätigte sich dieses Ergebnis dann auch bei einer großen Bahnlärmfeldstudie im Rheintal in den Jahren 2008/2009. Im Bereich Sound Engineering fanden wir heraus, dass sowohl die tonalen Komponenten im Fluglärm als auch das sogenannte Sägezahngeräusch, das durch die Triebwerke beim Starten der Maschinen erzeugt wird, als besonders störend empfunden werden. Wir konnten dann auch für die untersuchten Flugzeugtypen ein Ranking der besonders störenden Frequenzen erstellen, so dass die Entwickler eine Anleitung bekamen, wie sich das Gesamtgeräusch am effektivsten optimieren lässt.
Im Jahr 2006 erarbeitete das DLR ein Nachtschutzkonzept für den Flughafen Leipzig/Halle. Was war daran das Besondere?
Wenn Fluglärmschutzzonen berechnet werden, sind derzeit im gültigen Fluglärmgesetz für die Nacht nur physikalische Mittelwerte des Fluglärms und gewisse Limitierungen bei der Überschreitung von Maximalpegeln berücksichtigt. Wenige sehr laute Flüge bekommen dabei den gleichen Mittelwert zugewiesen wie viele leisere Flüge. Im Schlaf können die möglichen Aufwachreaktionen der Anwohner in beiden Fällen völlig unterschiedlich sein. Deshalb entwickelten wir erstmalig und zunächst für den Flughafen Leipzig/Halle ein Schutzkonzept, in das physiologische Lärmgrenzwerte einfließen, die sich auf die Aufwachreaktionen beziehen. Das Konzept wurde unter Berücksichtigung der Aufwachreaktionen auf Grundlage der Daten der Köln/Bonner-Studie erstellt. Diese Daten werden mittlerweile auch für den sogenannten Frankfurter Nachtindex verwendet sowie für den Fluglärmindex in Zürich. Ein aus unserer Sicht sehr wichtiger nächster Schritt wäre es, diese physiologischen Grenzwerte auch allgemein im Fluglärmschutzgesetz zu verankern.
Bis 2013 gab es für die Untersuchung des Schlafs von Flughafenanwohnern nur die recht aufwändige Methode der Polysomnografie. Welche neue Methode steht Ihnen mittlerweile zur Verfügung und welche Vorteile bringt diese?
Gemeinsam mit der University of Pennsylvania in den USA entwickelten wir die sogenannte Vegetativ-Motorische-Methode, die die nächtlichen Herzfrequenzbeschleunigungen und Körperbewegungen der Flughafenanwohner misst. Anstatt vieler Messelektroden müssen nur noch wie bei einem einfachen EKG zwei leicht anzulegende Elektroden angeklebt werden. Ein Proband kann dies ohne Probleme eigenständig am Abend vor dem Schlafen tun, was es uns ermöglicht, bei gleichem Budget deutlich größere Probanden-Gruppen zu untersuchen. Ab 2008 begannen wir mit der Entwicklung der Methode, indem wir uns anhand von Polysomnografie-Daten aus unseren Schlaflaborstudien ansahen, wie sich bei einer lärmbedingten Aufwachreaktion Herzfrequenz und Körperbewegung verhielten. Diese Methodik haben wir dann noch einmal deutlich optimiert anhand der in NORAH 2011 und 2012 gemessenen Daten. 2013 wurde dann die Methodik erstmals in Frankfurt, 2014 in Philadelphia eingesetzt.
Wie wird der Schlafverlauf mit der neuen Methode abgebildet?
Wir messen mit der Vegetativ-Motorischen-Methode nicht mehr im eigentlichen Sinne die Schlafqualität und auch keine Aufwachreaktionen. Trotzdem konnten wir zeigen, dass sich mit der Aufzeichnung der Herzfrequenzbeschleunigungen und Körperbewegungen eine sensitivere Messkurve ergibt, die Lärmdosis und resultierende physiologische Lärmwirkung in Relation setzt. Das gelingt, weil die gemessenen Herzfrequenzbeschleunigungen offensichtlich ein feines Maß dafür sind, wie der Körper bereits auch unterhalb der Aufwachschwelle auf Fluglärmereignisse reagiert.
Die Lärmwirkungsstudie NORAH beschäftigte Sie die vergangenen Jahre. Welche DLR-Projekte gehen Sie jetzt an?
Derzeit beginnen wir in der Abteilung mit den Vorbereitungen für eine Feldstudie zur Wirkung des nächtlichen Fluglärms auf Kinder, die am Köln/Bonner Flughafen bis 2018 laufen soll. Da Kinder physiologisch anders reagieren als Erwachsene, können wir für diese Studie nicht die vereinfachte Methodik anwenden, sondern greifen hier auf die Polysomnografie zurück. Das heißt aber, dass wir in einer Pilotphase erst einmal schauen mussten, ob die Kinder überhaupt mitspielen, wenn wir sie jeden Abend über vier Nächte so aufwändig verkabeln. Das hat funktioniert und wir können daher nächstes Jahr mit den Untersuchungen in der Breite beginnen.
Was planen Sie darüber hinaus, welche Ziele verfolgen Sie?
Zudem führen wir bis 2017 ebenfalls eine Feldstudie zur Lärmwirkung des Straßenverkehrs auf den Schlaf durch. Wir werden ja immer wieder angefragt, Dosiswirkungskurven für Lärmschutzkonzepte zu liefern. Bisher konnten wir diese schon für den Fluglärm und den Schienenverkehrslärm ermitteln und nun wollen wir uns auch dem Straßenverkehr widmen. In weiteren externen Projekten beschäftigen wir uns derzeit auch mit den Wirkungen von Infraschall, also dem langwelligen nicht hörbaren Schall, auf den Menschen und der Kombinationswirkung von Lärm und Vibration durch Güterzüge auf den Schlaf. Insgesamt verfolgen wir in der Lärmwirkungsforschung am DLR das Ziel, die Ursachen von Schlafstörungen und Belästigung von Verkehrslärmbetroffenen detaillierter zu verstehen. Uns ist es wichtig, durch unsere Projekte eine kontinuierlich wachsende Wissensgrundlage bereitzustellen, die hilft, Betroffene besser vor Verkehrslärm zu schützen.
Den Originaltext vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin finden sie hier.